Sonntag, 30. September 2012

Der Umzug 2


Nachtigall reicht Rapunzel eine Jacke. „Ist er in seinem Käfig? Nicht, dass er verloren geht“, sagt sie noch, dann rennt sie ins Wohnzimmer und dirigiert den Transport des Klaviers.
Tatsächlich geht Rapunzel in die Küche und öffnet den Käfig.
„Nein, du willst mich doch nicht wirklich einsperren? Das halte ich nicht aus“, wettere ich gleich los.
„Im Käfig bist du aber am besten aufgehoben, da bist du in Sicherheit und kannst keine Dummheiten anstellen“, antwortet Rapunzel.
Wie kann meine Prinzessin so herzlos sein? „Bestimmt ersticke ich im Umzugswagen!“, schimpfe ich. Doch Rapunzel hört mir gar nicht zu.
„Du tust mir weh. Du krallst dich so fest, dass ich schon überall Kratzspuren habe!“
„Wenn du nicht immer hin- und herspringst, muss ich mich auch nicht so krampfhaft festhalten.“
Ich verstehe nicht, warum die Menschen so hektisch werden, nur weil sie umziehen. Wir Wanderratten ziehen ständig umher, ohne dass es uns große Probleme macht. Aber natürlich rammeln wir unsere Bauten nicht mit solch unwichtigem Kram wie Musikinstrumenten, Möbeln, Schuhen und anderen Dingen voll. Wären wir so kompliziert wie Menschen, hätten wir es nie von China bis nach Deutschland geschafft. Dann säßen wir noch immer irgendwo in Sibirien fest.
Rapunzel greift auf ihre Schulter. Natürlich warte ich nicht, bis sie mich fängt, sondern schlüpfe schnell in den Ausschnitt und rutsche den Rücken runter. Da kommt sie schon mit der zweiten Hand, also laufe ich an ihrem Hosenbund nach vorne.
„Prinz, wir ziehen um. Es gibt viel zu tun.“
„Darum müsst ihr doch nicht völlig durchdrehen! Mit ein bisschen Nachdenken geht alles viel besser.“
Im Hintergrund keifen sich die Jungs an. „Wir müssen erst vorne, dann hinten anheben“, schreit Zorro.
„Und dann stürzen wir mit den Klavier die Treppe hinunter“, gibt Winnetou zurück. Das Klavier steht vor der Haustür und die fünf Großen streiten sich.
„Genau das meine ich! Warum nehmen sie nicht die Gurte und tragen das Teil die Treppe hinunter?“, sage ich.
Rapunzel seufzt, lässt mich, wo ich bin und geht zur Tür.
„Wollt ihr nicht erst einmal die Gurte anlegen, bevor ihr die Treppe hinunterfallt?“, schlägt sie vor.
Braves Mädchen! Manchmal ist sie so klug und hört auf mich. Tatsächlich legen Winnetou, Zorro, Cäsar und Schneeweißchen die Gurte um und schieben sie unter das Klavier. Dann heben sie es durch die Tür und die Treppe hinunter. Rosenrot dirigiert sie dabei. Der kleine Laster vor dem Eingang hat zum Glück eine Hebebühne, so dass sie es nicht auf den Wagen heben müssen.
Rapunzel läuft zur Küche und trägt den Käfig hinterher. Dann steckt sie mich in die Jackentasche, die ist schön weit und bequem. Nach all der Hektik rolle ich mich zusammen und schlafe erst einmal eine Runde.





Leseprobe aus "Rattenprinzessin Rapunzel" von Annette Paul mit Illustrationen von Krisi Sz.-Pöhls, erhältlich bei Amazon

Sonntag, 23. September 2012

Der Umzug




Rapunzel rennt hin und her. Dabei wirft sie Socken, Nachthemden und Pullis in einen Koffer. Als der Koffer voll ist, schmeißt sie den Rest einfach in einen großen Pappkarton. Ihr Spielzeug und ihre Bücher kippt sie obendrauf. Ich klammere mich eisern fest, bei ihrem Getobe habe ich Angst herunterzufallen. Wer nimmt in diesem verrückten Haus schon Rücksicht auf eine kleine Ratte? Jeder denkt nur an sich!
„Die Musikinstrumente packen wir mit den Koffern zuletzt in den Bus. Der Rest muss in den Laster“, sagt Nachtigall. Nachtigall ist die Mutter Rapunzels und der anderen Chaoten.
„In den Koffer passt nichts rein“, sagt Rapunzel.
„Dann packe es in einen Karton!“
„Habe ich schon gemacht. Das Futter von Prinz muss ganz weit nach oben.“
„Na, er freut sich bestimmt, wenn du ihn mit Käse und Schinken fütterst, statt mit Nagerfutter.“
Manchmal kann Nachtigall tatsächlich Gedanken lesen. Nicht, dass sie besser wäre, im Gegenteil. Sie und Picasso sind viel schlimmer als die anderen. Dabei sind sie die Eltern dieser Schreihälse. Ich bin der einzige Vernünftige hier, aber wer hört hier auf eine kleine goldfarbene Ratte?
Warum habe ich mir das bloß angetan? Ich hätte damals vielleicht lieber im Kanal ertrinken sollen, als bei Rapunzel zu leben. Ihre Familie ist eine verrückte Künstlerfamilie. Der Vater, Picasso genannt, ist Maler. Angeblich ist er sehr talentiert. Nur hat das noch nie jemand so richtig erkannt. Also malt er Bilder, die er nur selten verkaufen kann, und damit sie nicht alle verhungern, gibt er Unterricht an Kunstschulen und Volkshochschulen. Als ob das noch nicht schlimm genug wäre, ist die Mutter, genannt Nachtigall, Sängerin. Ab und zu hat sie ein gut bezahltes Engagement. Dann muss die ganze Familie deswegen umziehen. Zusätzlich gibt sie Musikunterricht. Und damit ich und die Nachbarn richtig belästigt werden, spielen sämtliche sechs Kinder mindestens zwei Instrumente. Ohne Ohrschützer hält es hier keiner aus.
Kein Wunder, wenn sie alle etwas merkwürdig sind. Zu den Kindern gehört zunächst einmal Winnetou, der Älteste und auch Vernünftigste. Kein Wunder, er musste als Baby auch noch nicht ganz so unter dem Lärm seiner Familie leiden. Wie Winnetou aus den Büchern versucht er immer Frieden zu schließen. Er ist achtzehn und steht kurz vor seinem Abitur.
Der nächste ist Zorro, ein Gerechtigkeitsfanatiker, er ist siebzehn. Es folgen die Zwillinge Rosenrot und Schneeweißchen. Sie haben früher immer mit dem Bernhardiner ihrer Großeltern gespielt und sogar in seinem Korb geschlafen. Picasso meinte, sie wären wie die beiden Schwestern aus dem Märchen, die mit dem Bären spielen. Beide sind sechzehn. Am liebsten würden sie sofort ausziehen. Aber Geld hat hier keiner, also müssen sie bei ihrer Familie bleiben, bis sie selbst Geld verdienen. Cäsar ist dreizehn. Er hat schon früh erkannt, dass irgendjemand das Ganze organisieren muss, daher kommandiert er gern herum.
Rapunzel ist das Nesthäkchen. Den Namen hat sie, weil ich an ihrem Zopf, ähm Schal, aus einem Schacht geklettert bin. Sie hat die Familie, dank meiner Hilfe, bisher ziemlich unbeschadet überstanden. Sie ist neun Jahre alt und geht zur Grundschule. Damit sie später einmal das Gymnasium besuchen kann, helfe ich ihr in der Schule und bei den Hausaufgaben.
Ich selbst bin Prinz. Ich stamme aus der königlichen Familie der Goldratten. Wir sind mit den Wanderratten verwandt. Schon als ich klein war, erzählte meine Mutter immer die Vorhersage des Wahrsagers: „Eines Tages wird ein Prinz aus der königlichen Familie von einer Menschenprinzessin gerettet werden. Zum Dank bleibt er bei ihr und dient ihr treu. Sobald ihre Liebe groß genug ist, verwandelt er sich in einen Menschen, heiratet seine Prinzessin und die beiden bekommen viele Kinder. Bis zu ihrem Lebensende leben sie glücklich in einem Schloss.“
Wenn wir allein waren, hat meine Mutter mir zugeflüstert: „Der auserwählte Prinz soll auf seiner Pobacke ein Muttermal haben. Du hast dieses Mal. Eines Tages wirst du ein mächtiger Menschenkönig werden.“
Stundenlang verbrachte ich als kleine Ratte damit, meine Pobacke zu betrachten. Ja, ich habe unter dem goldenen Fell ein dunkles Mal. Später, als Jugendlicher, lachte ich über diese alte Prophezeiung. Doch dann spülte mich ein Unwetter in diesen Schacht, und kurz bevor meine Kraft mich verließ und ich ertrank, erschien Rapunzel und rettete mich. Jetzt warte ich darauf, dass Rapunzel erwachsen wird und sich der weitere Teil der Prophezeiung erfüllt. Woher allerdings das Schloss kommen soll, ist mir noch unklar.

                      
   


 
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Sonntag, 9. September 2012

Verregneter Urlaub




Das Wetter entsprach ihrer Stimmung. Seit Tagen regnete es ununterbrochen. Dabei hatte sie sich so auf den Urlaub in Spanien gefreut. Monatelang hatte sie dafür gespart. Doch statt am Strand zu liegen und sich eine aufsehenerregende Bräune zu erarbeiten, nette Männer zu erobern und sich endlich einmal ungehemmt auszuleben, starrte sie die Wände ihres hässlichen Zimmers an. Nachmittags setzte sie sich in eine Bar. Aber wirklich nette Leute hatte sie dort noch nicht kennengelernt. Dafür lösten sich ihre schicken roten Sandaletten auf, nachdem sie mit ihren durch den Bach, der sich Straße nannte, gewatet war. Seitdem lief sie barfuß zu den Bars. Sie musste ziemlich suchen, um überhaupt noch welche zu finden, die offen hatten. Die Familie aus dem Nachbarzimmer war vorzeitig abgereist. Jeden Morgen trafen sich im Frühstückszimmer weniger Gäste. Sie seufzte. Einfach nur grausam. Dann konnte sie sich genauso gut auf ihre Abschlussprüfung zum Einzelhandelskaufmann vorbereiten. Sie öffnete ihren Koffer und zog ein Buch heraus.


© Annette Paul