Sonntag, 3. November 2013

Ratte Prinz im Weihnachtsbaum

Seit Tagen tuscheln die Großen miteinander. Was die wohl haben? Selbst wenn ich meine Ohren spitze, höre ich nichts. Dabei besitze ich ein viel feineres Gehör als die Menschen.
Einmal schnappe ich etwas wie Überraschung und Geschenke auf. Doch dann bemerkt Schneeweißchen, die große Schwester meiner Prinzessin, dass Rapunzel und ich in der Nähe sind und zischt: „Pst“. Danach ist kein Wort mehr zu verstehen. So eine Gemeinheit, als ob ich etwas verraten würde! Für wen halten die mich? Ich bin der beste Geheimnisbewahrer der Familie!
Rapunzel kommt mittags mit klebrigen Fingern aus der Schule. Sie ist sechs Jahre alt und geht in die erste Klasse. Vor ein paar Monaten hat sie mir das Leben gerettet und mich mit einem Schal aus einem Kanal gezogen, sonst wäre ich ertrunken. Deshalb nennen ihre Geschwister sie jetzt Rapunzel, nach der Prinzessin aus einem Märchen. Sie ließ den Prinzen an ihrem Haar hochklettern.
Ich bin eine kleine goldfarbene Ratte aus königlicher Familie. Eine alte Prophezeiung sagt, dass wir einst verhext wurden. Deshalb können wir uns mit den Menschen in ihrer Sprache unterhalten. Erst wenn der auserwählte Prinz eine liebende Prinzessin findet, werden wir erlöst. Deshalb bleibe ich bei Rapunzel. Allerdings wird es noch lange dauern, bis sie erwachsen ist und mich heiraten kann.
„Nimmst du mich morgen mit zur Schule?“, frage ich am Abend, als sie ihren Schlafanzug anzieht.
„Nein, das geht nicht.“
„Warum nicht? Ich bleibe im Ranzen und bin ganz leise“, verspreche ich.
Rapunzel lacht nur.
„Wenn du mich hierlässt, ärgere ich deinen Vater“, drohe ich.
Sie schüttelt den Kopf, dann schlüpft sie unter die Decke und nimmt sich ein Buch. Sie darf jeden Abend zwei Seiten lesen, bevor sie schlafen soll.
„Ich nage in der Vorratskammer alle Lebensmittel an.“ Irgendwie muss ich sie doch herumbekommen.
Aber sie antwortet gar nicht mehr, so vertieft ist sie in ihr Buch.

Wenn sie mich schon allein lassen, muss ich halt jede Gelegenheit nutzen, um einen Spaziergang zu machen. Am nächsten Morgen herrscht wie üblich Lärm und Unruhe. Rapunzel kommt noch einmal in das Zimmer um ihren Turnbeutel zu holen.
„Rapunzel, beeile dich, sonst kommst du zu spät“, ruft Nachtigall.
„Prinz braucht Wasser.“
„Das mache ich, mit dem Fahrrad bin ich schneller in der Schule.“ Zorro, der zweitälteste der Geschwister, schiebt Rapunzel samt Turnbeutel aus dem Zimmer. Dann beugt er sich zu mir herunter, schüttet etwas Futter in den Napf und holt aus dem Badezimmer frisches Wasser. Dabei hakt er meine Käfigtür nicht richtig ein. Sobald Ruhe einkehrt, klettere ich raus und springe die Treppe hinunter. Ich habe Glück, die Wohnzimmertür steht offen. Normalerweise ist sie geschlossen. Ich schlüpfe hinein und sehe mich gründlich um. „Ihr dürft nur zum Klavierspielen ins Wohnzimmer oder wenn wir dabei sind!“, hat Nachtigall bestimmt. Nachtigall ist Rapunzels Mutter. Sie wird so genannt, weil sie Sängerin ist und schön wie eine Nachtigall singt.
Im Wohnzimmer stehen ganz viele Bücher im Regal. Und auf einem Tisch neben dem Klavier stapeln sich Noten. Bergeweise. Wer soll das bloß alles spielen? Ich schaue es mir an. Obenauf liegen Stücke von Beethoven. Dabei klimpert hier niemand den alten Beethoven. Die Kinder lieben eher Schlager und selbst Nachtigall bevorzugt modernere Stücke.
An der Wand hängen sehr bunte Bilder. Sicher stammen sie von Picasso. Nicht dem berühmten Maler, der vor vielen Jahren gelebt hat, sondern Rapunzels Vater. Der versucht nämlich, mit seiner Kleckserei Geld zu verdienen. Die Kinder nennen ihn deshalb respektlos Picasso. Seine Bilder sehen wirklich so ähnlich aus wie bei dem großen Künstler. Lauter Farbspritzer, unter denen man sich nichts vorstellen kann. Vor einiger Zeit konnte man wenigstens noch ein paar verzerrte Gesichter erkennen, aber momentan sind es nur Striche, Vierecke, Kreise und Punkte.
In einer Ecke stehen ein Computer und ein Fernsehgerät. Die Kinder dürfen nur selten fernsehen, sie sollen nämlich lieber auf ihren Musikinstrumenten Krach machen. Wie gut, dass wir in einem alten Haus mit einem großen Garten wohnen. Dadurch leiden die Nachbarn nicht so sehr unter dem Lärm. Der eigentliche Grund für das Verbot ist sicher die Angst, dass der alte Fernseher ganz kaputt geht.
Gerade als ich es mir auf der Sofalehne gemütlich machen will, höre ich Schritte näherkommen. Vorsichtshalber springe ich auf den Tisch nebenan und verstecke mich unter einem Notenheft.





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