Samstag, 8. März 2014

Das brave Mädchen



Als kleines Mädchen sagte ihre Mutter immer zu ihr: „Sei lieb!“, ihr Vater: „Sei nicht so vorlaut!“ und ihre Großmutter: „So kriegst du nie einen Mann.“
Klein, häßlich, geduckt erschien sie sich selbst. Nie fand sie Gnade vor ihren eigenen Augen.
Auf Wunsch der Mutter wurde sie Verkäuferin. Ihr Chef und ihre Kolleginnen stießen sie herum und nörgelten, nie konnte sie es ihnen recht machen. Dabei übernahm sie freiwillig die widerlichsten Arbeiten, die kein anderer erledigen wollte.
Ihrem Mann war sie dankbar, weil er sie trotzdem heiratete und somit erlöste. Wenigstens blieb sie nicht alleine.
Ihre Kinder, kleine selbstbewußte Jungen, die alles forderten, aber keine Pflichten kannten, tyrannisierten sie. Ohne Dank verließen die beiden nach achtundzwanzig Jahren das Haus, um Karriere zu machen und ihre eigenen Ehefrauen herumzukommandieren.
Ihr Mann meinte, länger hielte er es mit ihr, so dumm, hausbacken und alt wie sie sei, nicht mehr aus. Im Übrigen hätte er mit einer anderen zwei Kinder.
Allein zurückgelassen schluckte sie eine Handvoll Schlaftabletten, die ihr Mann vergessen hatte. Daraufhin spuckte sie erbärmlich, schlief vierundzwanzig Stunden durch und erwachte wie neugeboren.
Es war Zeit, ihr Leben zu ordnen. Sie ging zum Frisör, kaufte hübsche Kleider und verkaufte das alte Haus ihrer Großmutter. Dann begab sie sich auf eine Reise durch Lateinamerika. Dort ärgerte sie sich mit Reiseveranstaltern und Taschendieben herum. Wutentbrannt schlug sie einem Dieb mit ihrer Umhängetasche k.o. Verblüfft über diesen Erfolg wurde sie selbstbewußter. Als ihr Geld verbraucht war, ließ sie sich in einem Restaurant als Küchenhilfe einstellen. Kurze Zeit später erschien der Koch nach einer durchzechten Nacht nicht, und sie übernahm die Küche. Zwei Jahre später hatte sie soviel zusammengespart, um ein heruntergekommenes Gasthaus zu kaufen. Sie renovierte es und bekochte fortan Touristen.
Inzwischen ist sie siebzig Jahre alt, besitzt eine Hotelanlage, mehrere Feinschmeckerrestaurants und einen Partyservice. Sie ist nicht mehr lieb, sondern knallhart und vorlaut.
Wenn man sie fragt, wie alt sie ist, antwortet sie: „Fünfundzwanzig Jahre, die Jahre davor zählen nicht, da habe ich nicht gelebt.“

©Annette Paul

Sonntag, 2. März 2014

Es klappt nicht so, wie es soll



Nico schneidet Fenster in die Pappe. Er arbeitet ganz sorgfältig. Seine Laterne soll doch schön aussehen. Bald ist er fertig. Anschließend schneidet er das Transparentpapier zurecht. Irene hat die Stücke mit Bleistift vorgezeichnet. Irene ist seine Erzieherin. Jetzt nimmt Nico den Kleber. Langsam fährt er an der Kante des Fensters entlang. Er ist ganz bei der Sache und bemerkt nicht, dass sein Freund Philipp aufsteht und in die Bauecke geht.
„Gut machst du das", sagt Irene. Sie wendet sich Anna zu und hilft ihr.
Nico nimmt sich ein durchsichtiges Papier. Es klebt an seinen Fingern und ist widerspenstig. Nico zieht es ab und legt es auf das Fenster. Aber jetzt ist das Loch noch zur Hälfte offen. Das Transparent ist zu klein. Nein, es liegt nur nicht genau auf dem Fenster. Also versucht Nico, es wieder herunter zu nehmen. Doch es geht nicht. Das Stückchen Papier klebt schon. Energisch reißt Nico daran. Nun ist es ab, dafür ist es eingerissen. Nico ist wütend. Mit einer Bewegung fegt er alles vom Tisch. Die Laterne, das Papier, die Schere, den Kleber.
„Blöde Laterne, ich bastle nie wieder eine Laterne", schreit er.
Erschrocken schauen Lea und Anna hoch.
„Heb das bitte auf, ich helfe dir gleich", sagt Irene ruhig und arbeitet mit Anna weiter.
Nico stampft mit dem Fuß auf. „Nein", schreit er.
Lea steht auf, kniet sich hin und sammelt die Sachen auf.
Nico schaut einen Augenblick zu, dann macht er mit. Schnell heben sie alles auf.
Lea streicht die zerknickte Laterne glatt.
„Na, was war los?" fragt Irene.
„Die Fenster passen nicht", jammert Nico.
Lea sucht Nicos Transparentstückchen.
„Die sind doch tadellos", sagt Irene und hält sie über die Fenster. „Wasch dir erst einmal die Hände. Dann kannst du besser weitermachen.“
Als Nico vom Waschbecken zurückkommt, hilft ihm Lea. Sie reicht ihm die Transparente. Und Nico hält sie prüfend über seine Fenster, bevor er sie aufklebt. Irene schneidet ihm ein neues Stück zurecht, auch das passt. Jetzt versteht Nico gar nicht mehr, warum es vorhin nicht klappte. Stolz hält er seine Laterne hoch.

 ©Annette Paul


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