Als kleines Mädchen sagte ihre
Mutter immer zu ihr: „Sei lieb!“, ihr Vater: „Sei nicht so vorlaut!“ und ihre
Großmutter: „So kriegst du nie einen Mann.“
Klein, häßlich, geduckt erschien
sie sich selbst. Nie fand sie Gnade vor ihren eigenen Augen.
Auf Wunsch der Mutter wurde sie
Verkäuferin. Ihr Chef und ihre Kolleginnen stießen sie herum und nörgelten, nie
konnte sie es ihnen recht machen. Dabei übernahm sie freiwillig die
widerlichsten Arbeiten, die kein anderer erledigen wollte.
Ihrem Mann war sie dankbar, weil er
sie trotzdem heiratete und somit erlöste. Wenigstens blieb sie nicht alleine.
Ihre Kinder, kleine selbstbewußte
Jungen, die alles forderten, aber keine Pflichten kannten, tyrannisierten sie.
Ohne Dank verließen die beiden nach achtundzwanzig Jahren das Haus, um Karriere
zu machen und ihre eigenen Ehefrauen herumzukommandieren.
Ihr Mann meinte, länger hielte er
es mit ihr, so dumm, hausbacken und alt wie sie sei, nicht mehr aus. Im Übrigen
hätte er mit einer anderen zwei Kinder.
Allein zurückgelassen schluckte sie
eine Handvoll Schlaftabletten, die ihr Mann vergessen hatte. Daraufhin spuckte
sie erbärmlich, schlief vierundzwanzig Stunden durch und erwachte wie
neugeboren.
Es war Zeit, ihr Leben zu ordnen.
Sie ging zum Frisör, kaufte hübsche Kleider und verkaufte das alte Haus ihrer
Großmutter. Dann begab sie sich auf eine Reise durch Lateinamerika. Dort
ärgerte sie sich mit Reiseveranstaltern und Taschendieben herum. Wutentbrannt
schlug sie einem Dieb mit ihrer Umhängetasche k.o. Verblüfft über diesen Erfolg
wurde sie selbstbewußter. Als ihr Geld verbraucht war, ließ sie sich in einem
Restaurant als Küchenhilfe einstellen. Kurze Zeit später erschien der Koch nach
einer durchzechten Nacht nicht, und sie übernahm die Küche. Zwei Jahre später
hatte sie soviel zusammengespart, um ein heruntergekommenes Gasthaus zu kaufen.
Sie renovierte es und bekochte fortan Touristen.
Inzwischen ist sie siebzig Jahre
alt, besitzt eine Hotelanlage, mehrere Feinschmeckerrestaurants und einen
Partyservice. Sie ist nicht mehr lieb, sondern knallhart und vorlaut.
Wenn man sie fragt, wie alt sie
ist, antwortet sie: „Fünfundzwanzig Jahre, die Jahre davor zählen nicht, da
habe ich nicht gelebt.“
©Annette Paul