Sarinas Augen irrten noch immer über die
schwarzen Zeichen, als die Kellnerin kam. „Was wünschen Sie?“
„Ich muss mich noch entscheiden.“ Sie
lauschte den Bestellungen der anderen. Alle verlangten Schnitzel, nicht gerade
ihr Lieblingsessen. Sie legte die Speisekarte zurück auf den Tisch. Die
Kellnerin schaute sie an und hielt Block und Stift schreibbereit.
„Da schließe ich mich an und eine Cola
bitte.“
„Ich denke, du magst kein Schnitzel?“,
fragte Margot verwundert.
„Ab und zu probiere ich es wieder.“
Das Grillhähnchen am Nachbartisch
versuchte sie tapfer zu ignorieren, während sie lustlos auf dem Schnitzel
herumkaute.
Auf dem Rückweg vom Treffen mit den
Kollegen verlief sie sich im U-Bahn-Tunnel. Sie trat vor dem Kiosk auf eine
vorbeieilende Frau zu. „Wo fährt die Bahn nach Stade?“
„Das steht doch da!“, antwortete die
Frau unfreundlich, wies mit der Hand auf ein großes Schild und war schon wieder
fort. Sarina biss die Zähne zusammen und irrte weiter durch die Gänge. Eine
alte Frau half ihr schließlich.
„Sie müssen bis zum Kiosk zurück und
dann nach rechts.“
Jetzt fand sie es sofort. Natürlich war
die Bahn weg und die nächste kam erst vierzig Minuten später. Maja schlief längst, als sie viel zu spät nach Hause kam.
Am nächsten Abend wartete ihre Tochter
schon auf sie. „Mama, ich brauche Material für die Schule.“
„Haben wir doch besorgt.“
„Nein, die Sachen für den
Kunstunterricht fehlen. Hier, schau mal.“ Sie wies mit dem Zeigefinger auf den
Zettel.
„Ich habe jetzt keine Zeit, ich muss das
Essen vorbereiten. Erzähl es mir lieber.“ Sie schob Maja weg, stellte den
Wassertopf auf den Herd, holte Salz und Gewürze und schälte Zwiebeln.
Maja hielt ihr immer noch den Zettel hin.
„Du musst den Brief unterschreiben.“
„Welchen Brief?“
„Den hier, den von Frau Lange.“
„Hast du was ausgefressen?“ Sarina
drehte sich um und schaute Maja streng an.
„Die Kleine senkte den Kopf. Tränen
schossen in ihre Augen.
Sarina stellte den Herd ab, setzte sich
auf den Küchenstuhl und zog Maja zu sich heran. „Wird schon nicht so schlimm
sein.“
„Weil du nicht zu dem Gespräch gegangen
bist.“
„Welches Gespräch?“
„Na, der Zetteln, den ich dir letzte
Woche gegeben habe.“
„Welcher Zettel?“
Maja zeigte auf den Zettel, den sie an
den Kühlschrank gepinnt hatte.
Sarina schoss das Blut in den Kopf.
„Tut mir leid“, murmelte sie mit
belegter Stimme.
Sie schob Maja hinunter und fuhr mit dem
Kochen fort.
Beim Essen kam Maja auf den Brief
zurück. „Du musst ihn lesen.“
„Nachher.“
Maja schwieg bedrückt. Nach dem Abwasch
wagte sie noch einen Vorstoß. „Mama, der Brief.“
„Ja, ja.“ Sarina schickte sie zum
Zähneputzen und ins Bett.
Sie setzte sich vor den Fernseher. Um
Frau Lange anzurufen, war es zu spät. Am besten telefonierte sie morgen
mit ihr.
Als die Tagesthemen liefen, tauchte Maja
wieder auf. „Du sollst doch schlafen.“
„Der Brief.“
Sarina zögerte, dann nahm sie den Umschlag
und öffnete ihn. Eine Weile starrte sie auf die Zeichen, bis Maja ihr
schließlich das Blatt aus der Hand nahm und stockend vorlas. Frau Lange
forderte sie auf, mehr mit Maja zu üben, da sie im Lesen und Schreiben Probleme
hatte und bat sie, sie anzurufen.
Anschließend sah Maja ihr in die Augen.
„Mama, du kannst gar nicht lesen.“
Sarina wurde heiß. Sie senkte den Blick.
Gleich morgen würde sie sich zu einem Kurs anmelden. Außerdem würde sie die
alte Frau Rothe bitten, mit Maja zu üben. Die Nachbarin hatte schon öfter Hilfe
angeboten. Maja sollte nicht länger unter den Problemen ihrer Mutter leiden.
©Annette Paul