Sonntag, 3. Juni 2012

Papas Tochter



Sie schloss die Autotür auf, warf die Schlüssel auf den Sitz, verriegelte die Tür von innen und schlug sie zu. Einen Augenblick blieb sie stehen und schaute auf den Mercedes. Sie würde sich kein eigenes Auto leisten können, aber wenn sie endlich erwachsen werden wollte, musste sie auf Luxus verzichten.
Sie betrachtete die große Beule im Kotflügel. Papa würde toben. Zum Glück war dem großen Findling, den sie übersehen hatte, nichts geschehen. Sie verzog das Gesicht. Zuerst hatte sie es Papa gestehen wollen. Er hätte herumgeschrien, sich dann aber schnell beruhigt, denn Caprice wusste genau, wie sie ihren Vater um den Finger wickeln konnte. Doch das wollte sie nicht mehr. Sie wollte nicht länger sein kleines Mädchen sein, in seiner Villa wohnen, Jura studieren und später in seiner Kanzlei arbeiten.
Die Delle hatte ihren Entschluss reifen lassen. Sie würde endlich das tun, was sie sich immer gewünscht hatte. Sie würde eine Ausbildung bei einem Fotografen machen. Nicht hier, sondern in der Großstadt. Hoffentlich nahm Sina sie für eine Weile auf. Sonst musste sie bei der Bahnhofsmission unterkommen. Sie verzog ihr Gesicht. Hatten die überhaupt Betten? Egal. Notfalls musste sie auf einer Parkbank schlafen. Sie zog ihr Portemonnaie. Ja, für die Fahrkarte reichte es. Noch heute würde sie sich einen Job suchen. Vielleicht konnte sie kellnern.
Sie wollte nicht länger Papas Tochter sein. Sie wollte ihr Leben selbst in die Hand nehmen. Endlich leben. Sie hatte nur dies eine Leben.


© Annette Paul