Sonntag, 8. Juli 2012

Der Lebensabend



Martha stellte den dampfenden Teller auf den Nachttisch. Müde strich sie sich die Haare aus dem Gesicht.
Sie fuhr das Krankenbett hoch, bedeckte seinen Oberkörper mit einem Handtuch, setzte sich auf die Bettkante und fütterte Heinz.
Die Monate der Pflege hatten sie zermürbt.
„Gib Papa ins Heim, du machst dich ganz kaputt. Es ist zu viel", drängte ihre Tochter Hannelore.
Aber Martha konnte nicht. Hatten sie sich nicht einst versprochen, in guten wie in schlechten Zeiten füreinander da zu sein? Was hatten sie nicht alles miteinander durchgemacht. Den Krieg. Martha mit zwei kleinen Kindern allein zu Hause, Heinz an der Front. Die Bombennächte und die Flucht in den Westen. Und Heinz in Kriegsgefangenschaft. Dann der Neuanfang. Martha war mit den Kindern auf die Felder stoppeln gegangen und hatte für andere genäht. Heinz hatte nach seiner Rückkehr auf dem Bau gearbeitet, froh am Leben zu sein, froh überhaupt Geld zu verdienen. Langsam hatten sie sich hochgearbeitet. Nach ein paar Jahren fand Heinz wieder Arbeit als Lehrer, und sie bauten sich ein kleines Häuschen. Der große Gemüsegarten sparte Haushaltsgeld.
Nachdem die Kinder ausgezogen waren, ging es ihnen gut. Sie hatten nicht mehr so viel Arbeit und weniger Ausgaben. Endlich konnten sie sich einen bescheidenen Luxus leisen, ab und zu neue Kleidung, einen Theaterbesuch, kleine Reisen.
Martha redete Heinz gut zu, etwas zu essen. In diesem zusammengefallenen Greis konnte sie kaum noch ihren stattlichen Heinz erkennen, ihren Felsen in der Brandung, der immer so optimistisch vorwärts geschaut hatte.
Ein Lächeln breitete sich über sein Gesicht aus. Er erkannte sie. Ein kostbarer Augenblick. Sein Abendlächeln erwärmte ihr Herz.


© Annette Paul