„Siehst du, Stina, wir sind fast pünktlich“, meinte Maren und öffnete die hintere Wagentür, damit ihre Tochter aussteigen konnte.
Wie üblich vergaß Stina ihren Rucksack und Maren ergriff ihn automatisch.
Über den Kindergartenparkplatz kam ihnen eine kleine, untersetzte Frau mit einem Kopftuch entgegen. Sie nickte Stina lächelnd zu und ging weiter.
Maren blickte ihr kopfschüttelnd hinterher. „Unmöglich, dass die immer noch wie in Anatolien herumlaufen müssen. Wer hier lebt, sollte sich doch unseren Bräuchen anpassen“, schimpfte Maren laut.
„Das ist Tubas Mama“, klärte Stina sie auf.
„Tuba? Wie die Trompete?“, fragte Maren überrascht und feixte.
„Was?“ Stina verstand sie nicht.
„Eine Tuba ist eine Art Trompete“, erklärte Maren und schob Stina weiter.
„Tuba, Trompete, Trara, Trara“, schrie Stina und stürmte los.
Die Tür zu ihrem Gruppenraum stand offen. Stina blieb in der Tür stehen, der Raum war leer. Alle spielten schon im Garten.
„Oh, wir sind zu spät“, jammerte Stina und verzog ihr Gesicht.
„Hexen kann ich nicht. Sei froh, dass ich mitgekommen bin. Ich habe extra mit Sabine die Schicht getauscht, damit ich auf eurem Fest helfen kann“, fauchte Maren.
Stina hörte schon nicht mehr zu, sondern stürzte zu den anderen. Maren begab sich zu Frau Voß, der Erzieherin, und Ulrike, einer anderen Mutter, die einen Suppentopf auf einen Tisch im Freien stellten.
„Tuba, Trompete, Tuba, Trara, Trara“, schrie Stina lautstark.
„Stina, lass das. Du würdest es doch sicherlich nicht gut finden, wenn Alexander sich etwas zu deinem Namen einfallen lässt und dich damit hänselt“, ermahnte Frau Voß sie.
„Stina meinte es nicht böse, sie findet nur den Namen so komisch“, verteidigte Maren ihre Tochter.
„Vielleicht finden Tubas Eltern unsere Namen auch komisch?“, gab Frau Voß zu bedenken.
Maren schwieg lieber, schließlich wollte sie nicht als ausländerfeindlich gelten.
Vorsichtig füllte sie Suppe in die Teller und stellte sie auf einen der kleinen Tische, die zwischen den Bäumen standen. Sofort stürzten sich die Kinder gierig auf das Essen, als ob sie nicht gerade eben daheim gegessen hätten. Nur Tuba rührte ihre Suppe nicht an.
„Greif zu, zier‘ dich doch nicht so. Das ist eine gesunde Suppe“, munterte Maren sie auf. Doch Tuba reagierte nicht.
„Kannst du nicht sprechen? Verstehst du auch kein Deutsch?“, fragte Maren.
„Tuba isst keine Würstchen“, erklärte Max, der neben Tuba saß.
„Diese leckeren Würstchen? Tuba, die schmecken ganz toll“, versuchte Maren sie zu überreden, doch Tuba blieb still und regungslos.
„Wir müssen den Aberglauben dieser Menschen doch nicht auch noch verstärken. Die müssen sich doch schließlich an uns anpassen“, meinte Maren zu Ulrike.
„Für Tuba und Rolf haben wir eine Extrasuppe. Rolf hat eine Allergie“, rief Frau Voß ihnen zu, als sie Tuba so unschlüssig vor dem Teller sitzen sah. Sie kam hinzu und stellte Tuba einen neuen Teller hin. „Komm, Tuba, da ist kein Fleisch drinnen, nur Gemüse.“ Dann brachte sie auch Rolf seine Extraportion.
„Sie hätten hier doch Gelegenheit, ihr diese dummen Sitten auszutreiben“, wies Maren Frau Voß hin und füllte einige Teller nach.
„Wieso? Damit die Eltern sie abmelden? Und sie keine deutschen Freunde mehr hat und Deutsch erst in der Schule lernt? Wir kommen doch auch so zurecht“, meinte Frau Voß gelassen und füllte Tubas Teller wieder auf.
„Danke“, sagte Tuba und balancierte ihren Teller vorsichtig zu ihrem Platz.
„Mich stört es nicht, wenn sie keine Würstchen isst“, fuhr Frau Voß fort. Dann lachte sie laut auf und blickte Maren spöttisch an.
„Meine chinesische Freundin amüsiert sich immer, wenn ich keine Heuschrecken oder andere Spezialitäten esse. Sie meint, ich solle keine Vorurteile gegenüber einer uralten Kultur hegen.“
Maren schüttelte sich und schaute Frau Voß entsetzt an.
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Albtraum der gestohlenen Gefühle
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